AK Sprechende Vergangenheit
Der Arbeitskreis „Sprechende Vergangenheit“ erinnert mit seinen Veranstaltungen an die nationalsozialistische Vergangenheit der Stadt Jena. Auf gestalteten Stadtrundgängen, bei öffentlichen Diskussionsveranstaltungen, mit Vorträgen und Ausstellungen werden verschiedene Aspekte dieser Zeit thematisiert und zugleich die Geschichtslügen der Nazis demaskiert. Besonders die Stadtrundgänge zu authentischen Orten der Stadtgeschichte haben nachhaltige Wirkung, denn sie unterstützen die Bildungsarbeit schulischer Einrichtungen als offenes Angebot. Gegenwärtig arbeitet der Arbeitskreis an einem virtuellen Stadtrundgang („Vernetztes Gedächtnis“) zum Thema „Jena in der Zeit des Nationalsozialismus“, der auf die Homepage der Stadt Jena gestellt werden soll.
Kontakt zum Arbeitskreis gibt es über die Mailadresse
Ein Mahngang an Orte der Judenverfolgung in Jena
8. November 2008 • 14.00 Uhr
Treffpunkt: Kahlaische Str. 1
Weiterlesen: Mahngang "Täter Opfer Schergen" - zur Erinnerung an den Judenpogrom
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Der kritische Zugang zu dem Motto des Mahngangs ist durchaus nachvollziehbar, die davon ausgehende Bewertung des Mahngangs ist jedoch so nicht akzeptabel, denn es werden sowohl der Anlass des Mahngangs, der Zeitpunkt des Mahngangs, vor allem aber das Interpretationsangebot, das der Mahngang selbst bietet, nicht oder zumindest nicht hinreichend veranschlagt.
Ausgangspunkt des Mahngangs war die Erinnerung an den Fackelmarsch der Nazis durch Jena am 30. Januar 1933. Der Fokus war also zunächst und von Anfang an auf die Täter gerichtet: der Eintritt der Nazis in die Stadtgeschichte (Propagandaspektakel Fackelzug), ihr verbrecherisches Wirken und die Unterstützung durch die Bevölkerung (Stationen), das Ende der Gewaltherrschaft (Bombardierung). Es ging also in erster Linie nicht darum, der Opfer zu gedenken, sondern uns war wichtig, auf die Täter zu verweisen. Diesem Anliegen entspricht der Zeitpunkt des Mahnmarschs: er fand zeitnah zum 30. Januar statt. Der nächste Mahngang des Arbeitskreises soll am 9. November stattfinden - dass dieser dann einen grundsätzlich anderen Zugang zur Stadtgeschichte eröffnen wird und andere Darstellungsmuster braucht, muss vielleicht nicht ausdrücklich betont werden.
Der Mahngang bot nicht nur Fakten zur Stadtgeschichte, sondern er war zugleich eine Inszenierung, damit ein Interpretationsangebot. Diese Inszenierung hatte 4 wesentliche Elemente: Der pantomimische Auftritt der Reizvolxgruppe, der künstlerisch mit Folgen der Machtergreifung Hitlers umging, vermittelte zugleich den Verweis: die Gestaltung birgt eine Aussage. Die zweite Inszenierung betraf die Route des Mahngangs. Der Weg des Fackelzugs und des Mahngangs 2008 führte durch die gleichen Straßen, aber er vollzog sich in umgekehrter Richtung, d.h. auch: wir wollen die Situation nicht imaginieren, sondern kritisch reflektieren. Im Wissen um die Folgen wird das verbrecherische Handeln der Täter und das (Nicht)handeln der Mitläufer erinnert und vorgestellt. Diesem Ansatz, den Aufbruch der Nazis und das Ende ihrer Gewaltherrschaft zusammen zu denken, war dann auch die dritte Inszenierung - das Motto - verpflichtet. Auf metaphorischer Ebene ist das Flammenbild sinnreich: die Fackeln der Nazis, die den unseligen Aufmarsch begleiteten, von denen ein Feuer ausging, das 12 Jahre lang wütete und Europa, Teile der Welt und schließlich auch unsere Stadt in Flammen setzte. Das Schlussposter „So was kommt von so was" formuliert das knapp und zutreffend. Die vierte Inszenierung schließlich betraf das Schlussbild selbst und war am schwierigsten zu finden. Um der Gefahr zu entgehen, am Ende die Jenaer Bevölkerung als „eigentliches Opfer" darzustellen, brauchte es einen Perspektivwechsel, der uns durch eine mediale Veränderung möglich wurde. Die Wiedergabe der Stimme von Ricarda Huch, einer Zeitzeugin, erwies sich als geeigneter Kunstgriff. Ohne jedes Opfergehabe oder Selbstbemitleidung berichtet sie in eindringlichen Sätzen von den Fliegerangriffen auf Jena am 19. März 1945. Der letzte Satz des Mahngangs „Die Stadt stand in Flammen" wurde von einer Antifaschistin gesprochen.
Natürlich war uns auch klar, dass die Wahl des Mottos ein Wagnis ist. Wir hatten Gründe dieses Wagnis einzugehen, und die Reaktion vieler Teilnehmer des Mahngangs hat uns darin bestärkt, dass es richtig war, feste Argumentationsfiguren wie „Das Selbstmitleid der Deutschen verdeckt das Leid der Opfer" zu unterlaufen.
Zunächst: Wenn wir als Schlussbild die Erinnerung an das zerstörte Jena wählen, dann trauen wir den Teilnehmern des Mahngangs etwas zu. Wir nehmen ihre Erinnerungen und Vorstellungen, auch ihre Leid- und Schmerzerfahrungen ernst und setzen darauf, dass diese hinterfragt und erschüttert werden können. Unsere Chance liegt genau darin: kein Verdikt wie „sie denken bei 1945 zuerst an die deutschen Opfer", kein Vorwurf, kein Appell, sondern Einladung zur Empathie, zur kritischen Reflektion, also zur Erkenntnis. Das hat nichts mit Kompromisslerei oder gar mit Opportunismus zu tun, sondern ist einer einfachen Erfahrung geschuldet: der Mensch muss dort abgeholt werden, wo er steht. Ein Mahngang kann ein erster Impuls dafür sein, und es liegt an uns weitere Gesprächsformen zu finden, die den Weg der Auseinandersetzung mit der Nazizeit und dem Rechtsextremismus von heute befördern und begleiten. Dass der Mahngang dies mit seinem Motto blockiert, kann ich nicht sehen.
Und schließlich: wir agieren nicht im leeren Raum. Die Zerstörung deutscher Städte und das damit verbundene Leid sind Themen, die lange Zeit von der linken Kritik nicht aufgegriffen wurden, mit Gründen, die gut nachvollziehbar sind. Themen aber, die wir tabuisieren, werden schamlos von den Neonazis missbraucht, um die Geschichte in ihrem Interesse umzulügen. Sie sind es, die heuchlerisch und zynisch die Erinnerungen instrumentalisieren. Das dürfen wir nicht zulassen. Ich bin da selbst ratlos: Zum einen möchte ich mich durch die Nazis bei der Wahl meiner Themen unter gar keinen Umständen beeinflussen lassen. Zum anderen aber habe ich das Bedürfnis, etwas gegen deren Geschichtslügen zu setzen. Mit unserem Mahngang hatten wir uns dafür entschieden: „Die Stadt in Flammen"- das ist ein historischer Fakt. Er ist eingeschrieben in die Erinnerung der damals Betroffenen, er ist Teil der Vorstellungen der nachfolgenden Generation. Dies zu ignorieren würde bedeuten, die Deutungshoheit den Neonazis zu überlassen, die sie seit Jahren schon in Dresden, aber auch in Jena schamlos in Anspruch nehmen.
Der Mahngang war unser erster Versuch, Deutungshoheit zurück zu gewinnen: der Einzug der Nazis in unsere Stadt, die Verbrechen der Nazis, die Zerstörung der Stadt als Folge und Schlusspunkt. So was kommt von so was. Ich kann daran nichts Falsches finden.
In seinen einzelnen Beiträgen hat der Mahngang die breite Zustimmung der Bevölkerung zur nationalsozialistischen Politik und die Folgen für deren Opfer nahe gebracht. Dieses Anliegen finde ich richtig. Es wird aber durch den Titel, der über dem ganzen stand, einigermaßen in Frage gestellt. Denn nicht der damals alltägliche Antisemitismus und Rassismus gibt so die Klammer ab für die Darstellung der Einzelereignisse, sondern die allzu selbstgewisse Einsicht: So was kommt von so was. Oder noch krasser formuliert: nicht Misstrauen und Sensibilität gegenüber nationaler und kultureller Tradition, wie sie m. E. die angemessene Art der Geschichtsaufarbeitung wären, gehen von dem Motto aus, sondern Selbstbezüglichkeit: „Die Stadt stand in Flammen" wird zur drohenden Mahnung, bei der die Opfer aus dem Blick geraten. „Das haben wir uns angetan" hätte den gleichen Aussagegehalt. Wohl hat der Mahngang in seiner Ausgestaltung die kollektive Selbstverständlichkeit des Nationalsozialismus in den Fokus gerückt, sie wird aber nicht zersetzt, sondern unkritisch weitergeschleppt, wenn die Täter von damals ins Kollektiv der leidenden Stadtbewohner eingemeindet werden: vor dem Bombenhagel sind alle gleich.
Wenn ich die Wahrnehmung der Vergangenheit entlang dieses Mottos strukturiere, wird jede einzelne antijüdische Aktion - die Boykottkampagnen, die Arisierungen, „Juda verrecke"-Rufe, Deportationen und Vernichtung - auf dieses finale Ereignis hin interpretiert. Erst die Bombardierung der Stadt und das Leid der Deutschen, nicht ihre Verbrechen, sind demnach Anlass zur Besinnung, das wird zumindest suggeriert. Aber gibt es denn keine besseren Gründe als die Opfer, die bei der Zerschlagung des Nationalsozialismus durch die Alliierten umkamen, um zu erkennen, dass man ‚so was' wie massenhafte Verfolgung und Ermordung unter allen Umständen hätte verhindern müssen? Natürlich weiß der AK Sprechende Vergangenheit so gut wie ich, dass es diese Gründe damals gab und heute erst recht gibt. Wenn man die für die Verbrechen des Nationalsozialismus Verantwortlichen (vom Landser über das Bahnpersonal bis hin zum Arisierungs-Gewinnler) nicht als gänzlich fremdgesteuert betrachtet, muss man annehmen, dass sie diese Gründe, also die zivilisatorischen Selbstverständlichkeiten, wissentlich über Bord warfen, weil sie auf den Sieg Hitlers hofften.
Warum der AK, auch wenn ihm jede Täter-Opfer-Verkehrung fern liegt, dennoch zur beanstandeten Parole greift, kann ich vermuten. Das Ziel unseres Netzwerks ist es, die von linker Seite gern gepflegten Grabenkämpfe und Abgrenzungsrituale zu überwinden, eine breit anschlussfähige, generationenübergreifende und kulturell vielfältige Bewegung gegen Rechts zu stärken. Dazu gehört es auch, Kompromisse untereinander zu finden und die Adressaten unserer Aufklärung nicht mit Radikal-Rhetorik zu verprellen, sondern für den Rechtsextremismus zu sensibilisieren und in ihrer Handlungsfähigkeit zu unterstützen. Gehe ich davon aus, dass viele Jenenser und Jenaer gerne in ihrer Stadt leben, dann wird die Warnung ‚Stadt in Flammen' auf Neugier und der Wunsch, den Brand zu verhindern, auf Entgegenkommen stoßen. Trotzdem bin ich gegen das Motto des Mahngangs. Wer tatsächlich bei 1945 zuerst an die deutschen Opfer und nicht an das Ende des Nationalsozialismus denkt, kann persönlich einschneidende Erfahrungen haben, ist ignorant, uninformiert oder einfach nur unsensibel. Solange er kein Neonazi ist, ist er Teil unseres imaginierten Zielpublikums. Vielleicht hat er sogar was gegen Nazis. Dann ist es m. E. an uns, die Diskussion zu suchen und den Widerspruch zwischen einer Ablehnung des Rechtsextremismus und der fehlenden Sensibilität gegenüber dem Nationalsozialismus kritisch auszuarbeiten, aber nicht zugunsten des bloßen Mitmachens und Mitdemonstrierens („Wir müssen mehr werden") problematische Ansichten durch missverständliche Parolen noch zu bestätigen. Denn wenn wir davon ausgehen, dass Rassismus und Rechtsextremismus letztlich keine Angelegenheiten gewalttätiger Jugendlicher sind, sondern aus der Mitte der Gesellschaft kommen, dann müssen wir Ansprüche an eben diese Mitte formulieren. Dazu gehört eine Erinnerungspolitik, die ausschließt, dass jemals umgedeutet oder entwichtigt wird, was die Deutschen im Nationalsozialismus taten. Wir brauchen einer wache Stadtkultur, die selbstmisstrauisch ist und neben Schiller und Hegel die Verbrechen nicht nur von NSDAP-Aktivisten, sondern von ‚ganz gewöhnlichen Deutschen' in ihr Selbstbild integrieren kann. Wenn Rassismus ‚gelernt' ist, dann lässt er sich auch aktiv ‚verlernen'. Davon ist keiner ausgenommen, das macht immer wieder Arbeit und Mühe. Niemand hat gesagt, dass es einfach ist, nicht rassistisch zu sein.
Am 1. Februar 2008 hat der Arbeitskreis ‚Sprechende Vergangenheit' des Jenaer Aktionsnetzwerks gegen Rechtsextremismus anlässlich der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler vor 75 Jahren einen Mahngang durch die Stadt organisiert. An verschiedenen historischen Orten wurde Station gemacht, um an die nationalsozialistischen Verbrechen und ihre Opfer zu erinnern.
Weiterlesen: Mahngang zum 75. Jahrestag der Machtergreifung Hitlers