Wir sind sauer. Wir sind wütend, empört und entsetzt über das Handeln der FDP und der CDU im Thüringer Landtag in dieser Woche und über das, was es über die Geisteshaltung dieser Parteien verrät. Indem sie zusammen mit der extrem rechten AfD unter dem Neonationalsozialisten Bernd Höcke Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten gewählt haben, und indem dieser die Wahl angenommen hat, haben FDP und CDU den demokratischen Mindestkonsens gebrochen, der in dieser Republik seit Jahrzehnten galt: den Konsens, dass Nazis, dass faschistische und neonationalsozialistische Parteien nie wieder Zugang zu politischer Macht erhalten dürfen.

Über Höcke und die Thüringer AfD viele Worte zu verlieren, erübrigt sich. Es ist vollkommen klar, und es konnte auch schon vor der Wahl allen, die einmal einen Blick ins Wahlprogramm dieser Partei geworfen haben, klar sein: Eine politische Kraft, die als zentrales Projekt eine als „Abschiebeinitiative 2020“ verniedlichte Kampagne zur massenhaften Entrechtung und Deportation von Migrant:innen ankündigt, die unter dem Deckmantel von „direkter Demokratie“ und „Bürgerbeteiligung“ die Aushöhlung und Zerstörung demokratischer und rechtsstaatlicher Institutionen plant, die die groß angelegte Verfolgung politischer Gegner:innen und die Errichtung eines autoritären Polizeistaats offen als ihre Ziele ausgibt – eine solche Kraft ist eine Gefahr für uns alle.

Der eigentliche Skandal dieser Woche ist aber nicht die AfD, der wirkliche Skandal ist das Handeln von FDP und CDU. Statt in einer verfahrenen politischen Situation ihre Phobie gegen die Linke zu überwinden und zumindest zuzulassen, dass eine Regierung unter einem Ministerpräsidenten zustande kommt, der enorme Unterstützung in der Bevölkerung genießt und dessen durch und durch demokratische Haltung außer Frage steht, zogen sie es vor, zusammen mit den Nazis der AfD in einem völlig destruktiven Akt einen unerfahrenen, der Aufgabe überhaupt nicht gewachsenen Desperado zum Ministerpräsidenten zu machen, damit die Institutionen vollständig zu lähmen und eine politische Krise zu provozieren, die weit über Thüringen hinausreicht.

Wieviel hiervon gezieltes Kalkül und wie viel einfache Dummheit war, sei dahingestellt. So oder so aber wirft dieses Geschehen ein grelles Licht auf die Einstellung und die Weltsicht großer Teile der konservativen und liberalen Eliten Thüringens. Es offenbart die erschreckende Tatsache, dass in ihren Köpfen der demokratische Grundkonsens „Nazis dürfen nie wieder Macht bekommen“ nicht existiert – oder dass er zumindest zurücktrat hinter eine Mischung aus rücksichtslosem Kalkül und Angst um die eigene Macht. Offenbar betrachteten die Fraktionsführungen von FDP und CDU die Konstellation im Thüringer Landtag immer noch in erster Linie als Konfrontation zwischen einem rotrotgrünen „linken Block“ und einem blauschwarzgelben „bürgerlichen“ Block, und sie wollten es nicht einsehen, warum sie auf die rechnerische Mehrheit des letzteren verzichten sollten. Dieses Bild von einer Lagerkonfrontation setzte sich in ihren Köpfen durch gegen die Vorstellung des demokratischen Konsenses. Denn wären sie auf dessen Boden geblieben, dann wären sie um eine zumindest stillschweigende Verständigung mit der Linken nicht herumgekommen.

Dieser Bruch ist, um die Bundeskanzlerin zu zitieren, unverzeihlich, und er darf nicht ohne die angemessenen Konsequenzen bleiben. Es führt deshalb aus unserer Sicht kein Weg vorbei an schnellstmöglichen Neuwahlen. Denn die Zusammensetzung des Landtags gibt seit dem am Mittwoch begangenen Verrat an der Demokratie eben nicht mehr die politischen Verhältnisse im Land wieder, wie die TLZ noch am Freitag in einem Leitartikel behauptete. Diese politischen Verhältnisse wurden von FDP und CDU mutwillig über den Haufen geworfen – und es muss den Menschen möglich sein, sich unter diesen neuen Bedingungen erneut zu überlegen, wer sie angemessen vertritt und wer nicht.

Wenn wir nach Neuwahlen rufen, geht es uns nicht um Parteipolitik. Es geht uns um die tiefer liegende Frage nach der Zukunft Thüringens und der Menschen in Thüringen und darüber hinaus. Das ungeheuerliche Geschehen im Landtag hat gezeigt, dass wir uns auf den demokratischen Konsens bei FDP und CDU nicht verlassen können. Wählerinnen und Wählern, die das bisher nicht sahen, ist es nun klar, und sie sollen sich entscheiden können, ob sie ihre Stimme Leuten geben, die den demokratischen Konsens glaubhaft vertreten, oder solchen, die ihn im Interesse der eigenen Macht auch mal beiseite schieben. Ohne Neuwahlen sind es aber eben, wie wir gesehen haben, letztere, die für die bürgerlichen Parteien im Landtag sitzen, und es gibt keinen Grund, ihnen zu glauben, dass sie in den nächsten fünf Jahren durchgängig anders agieren werden.

Kemmerich muss sofort von allen Ämtern zurücktreten, und auch alle anderen Verantwortlichen in FDP und CDU müssen gehen. Aber auch dann gilt: Nichts ist in Ordnung, solange es nicht zu Neuwahlen kommt und sich die Leute nicht im Wissen um die Haltung der Parteien und der Kandidat:innen zum demokratischen Konsens erneut eine Meinung bilden können. Denn solange die Abgeordneten, die Kemmerich gewählt haben, weiter im Landtag sitzen, kann sie niemand daran hindern, die Politik einer nun wahrscheinlich möglich gewordenen rot-rot-grünen Landesregierung immer wieder mit Hilfe Höckes und der AfD zu torpedieren und zu untergraben – also: Nazis an der Macht zu beteiligen. Das ist nicht an den Haaren herbeigezogen, sondern die ersten Schritte einer solchen Politik wurden bereits vor der MP-Wahl eingeleitet: Die FDP hat am 22. Januar zwei Gesetzentwürfe eingereicht: Einen zur Aufhebung der von rot-rot-grün eingeführten verpflichtenden Geschlechterparität von Landeslisten und einen zum Erlass eines Verbots der Errichtung von Windrädern im Wald. Beides sind Forderungen, die die AfD teilt – werden FDP und CDU, wenn es zur Abstimmung kommt, erneut sagen, sie könnten ja nichts dafür, wenn die AfD mitstimmt? Und das sind nicht die einzigen Themen, bei denen sich FDP, CDU und AfD inhaltlich nahe sind und bei denen sie rot-rot-grün als faktische Oppositionskoalition vor sich her treiben könnten.

Wer für mehr Geschlechtergerechtigkeit eintritt, sollte sich also klar sein, dass in der jetzigen Konstellation des Landtags die von Rot-rot-grün beschlossenen Fortschritte – wie eben die Parität der Landeslisten – mit Höckes Hilfe wieder rückgängig gemacht und weitere von der Minderheitsregierung vorgeschlagene Verbesserungen blockiert werden können.

Menschen, die sich Sorgen um die kommende Klimakatastrophe machen, sollten sich klar sein, dass das in der letzten Regierungsperiode beschlossene Thüringer Klimagesetz mit Hilfe der AfD aufgehoben oder ausgehöhlt werden könnte – das bereits beantragte Windradverbot in Wäldern ist ein ganz konkreter erster Schritt in diese Richtung – und dass Rot-rot-grün weitere, ambitioniertere Klimaschutzmaßnahmen nicht wird beschließen können.

Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter sollten sich klar sein, dass wichtige Vorhaben der Landesregierung zur Verbesserung der Situation und zum Ausbau der Rechte von Arbeitnehmer:innen keine Mehrheit finden werden – dies deutet sich etwa beim Thüringer Bildungsfreistellungsgesetz an – und dass FDP und CDU zusammen mit der AfD die Regierung zu unsozialen, arbeitnehmer:innenfeindlichen Maßnahmen zwingen könnten.

Menschen, die sich für die Rechte von Geflüchteten und für eine Willkommenskultur einsetzen, sollten sich klar sein, dass FDP und CDU zusammen mit der AfD eine härtere Linie bei Abschiebungen, Einschränkungen oder Streichungen von Leistungen für Asylsuchende, kasernierte Unterbringung und andere Einschränkungen der Rechte Geflüchteter erzwingen könnten. An rechtlich verbriefte weitere Verbesserungen ihrer Lage wird nicht mehr zu denken sein.

Kurz: mit einer Minderheitsregierung entstünde die unvorstellbare Situation, dass eine rot-rot-grüne Regierung gezwungen wäre, Gesetze umzusetzen, die ihren eigenen Zielen völlig entgegensetzt sind und die von der AfD mit beschlossen wurden. Sie wäre gezwungen, sich zur Erfüllungsgehilfin der AfD zu machen. Das kann und darf nicht möglich werden.

Auch mit einer Minderheitsregierung gilt also: Nichts ist in Ordnung. Es kann in der jetzigen Situation nur einen Weg geben: Neuwahlen! Und das nicht, weil wir uns davon Vorteile für bestimmte Parteien erhoffen würden, sondern weil dann die Diskussion und der Streit um die Zukunft Thüringens – um den Stellenwert von Klimaschutz und Verantwortung für kommende Generationen, um Offenheit und Menschenfreundlichkeit statt Ab- und Ausgrenzung, um soziale Gerechtigkeit und eine demokratische Wirtschaft, um Geschlechtergerechtigkeit und Gleichbehandlung – weil diese Auseinandersetzungen dann auf der Grundlage der einmal erfolgten Klärung ausgetragen werden können, wer wirklich hinter dem demokratischen Konsens steht und wer nicht, und weil dann erst alle wissen, woran sie sind. Diesen Streit dann mit allen, die den Konsens teilen, zu führen, bliebe dann die Aufgabe von uns allen, nicht lediglich die von parlamentarischen Repräsentant:innen. Aber da sind wir jetzt gerade nicht. Jetzt gerade kann es nur heißen:

Kemmerich muss besser gestern als heute raus aus der Staatskanzlei und aus allen Ämtern – und alle Verantwortlichen mit ihm!
Neuwahlen jetzt!

Die erste der beiden zuletzt erhobenen Forderungen hat sich inzwischen durch Kemmerichs Rücktritt erledigt. Dies ändert nichts an allem anderen hier Gesagten, und erst recht nicht an der Dringlichkeit, mit der wir alle aufgefordert sind, weiter aktiv Druck zu machen – nicht nur für Neuwahlen, sondern auch für ein anderes Thüringen.