Wenn die Ideologie der Ungleichwertigkeit in die Öffentlichkeit tritt, wenn sie Gestalt annimmt und den öffentlichen Raum okkupiert, dann ist Widerstand notwendig. Widerstand, der eine humane, solidarische und demokratische Gesellschaft verteidigt und weiter entwickelt.
Auch in der Vergangenheit verlief diese Bruchstelle in der Gesellschaft nicht zwischen Staat und BürgerInnen oder zwischen Partei A und B. Sie verläuft verschlungen durch die gesamte Gesellschaft und unterliegt ständiger Veränderung. Wie der gesellschaftlich-politische Wandel in Polen, Ungarn oder – auf teilweise ganz andere Weise – in den USA in jüngster Zeit zeigt, ist es keineswegs ausgemacht, wessen Vorstellungen den gesellschaftlichen Diskurs bestimmen.
Die Dynamik dieser Veränderungen lässt sich auch am Beispiel von Jena analysieren. Dabei spielen verschiedene Entwicklungen eine Rolle.
Seit dem proklamierten „Aufstand der Anständigen“ im Jahr 2000 wird gerne der Schulterschluss zwischen Politik und Zivilgesellschaft gegen den „braunen Ungeist“ beschworen. Dabei trat Jena lange Zeit als beispielhaft und als regelrechtes Gegenmodell zur „Sächsisch-Dresdner-Linie“ auf. Der entschiedene Widerstand gegen rechte Aufmärsche und deren Verhinderung durch Aktionen des zivilen Ungehorsams, wurden bundesweit beachtet und fanden vielfach positive Resonanz. Der respektvolle und besonnene Umgang der Behörden mit dem berechtigten Protest schien als „Jenaer Linie“ Schule zu machen, andere schienen sich ein Beispiel zu nehmen:?Der damalige Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, hielt die Dresdner Menschenkette vom 13. Februar 2010 für unzureichend im Widerstand gegen Rechtsextreme. „Hätten sich die Blockaden nicht als erfolgreich erwiesen, hätte auch die Menschenkette keinen Erfolg gehabt.“ So Kramer in der „ZEIT“ vom 18.02.2010. Am 1. Mai 2010 beteiligte sich Wolfgang Thierse (damals Vizepräsident des Bundestags) mit dem Argument, man müsse „den öffentlichen Raum gegen die Besetzung durch Rechtsextreme verteidigen“, an einer Sitzblockade. Der Slogan "Thierse, blockier' se" war schnell in aller Munde.
Mit einem offenen Brief wandte sich noch 2012 Jenas Oberbürgermeister Albrecht Schröter an den Sächsischen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich. Dabei kritisierte er das Vorgehen der sächsischen Ermittlungsbehörden, das von gegen Nazis engagierten Menschen als gezielte Kriminalisierung erlebt wurde. Darin hieß es: „Was jedoch noch schwerer wiegt, ist der erhebliche Vertrauensverlust vieler zivilcouragierter Bürgerinnen und Bürger in den Umgang der sächsischen Staatsanwaltschaft (und damit des Freistaates!) mit Menschen, die sich dem Rechtsextremismus mutig und friedlich in den Weg stellen. Viele fragen sich: Ist es politische Absicht, oder nehmen die sächsischen Behörden billigend in Kauf, dass durch Datenspeicherung und Haus-durchsuchungen ein möglicher Effekt der Einschüchterung entsteht? Sie fragen: Will man damit den Widerstand gegen die Neonazis am 19.2.2012 bereits im Vorfeld erschweren? Diese Fragen bewegen viele Bürgerinnen und Bürger meiner Stadt, besonders diejenigen, die sich in Dresden engagiert haben und weiter engagieren wollen. Ich bin beauftragt, Sie um eine Antwort zu bitten.“
Heute ist Kramer Verfassungsschutz-Präsident in Thüringen, und einer der Bundestagsvizepräsidenten ist der AfD-Abgeordnete Glaser. Die Haltung, friedliche Blockaden als Ausdruck „linker Gewalt“ und als „Gefahr für Demokratie und Freiheit“ statt als legitimes Mittel des Protests zu sehen, findet auch in Jena wieder breite Resonanz. Hausdurchsuchungen und Ermittlungen gegen AnmelderInnen und TeilnehmerInnen von Demonstrationen und Kundgebungen aus dem „demokratisch-humanistischen Lager“, werden nun nicht mehr nur von sächsischen Behörden, sondern auch von Thüringer Polizei und Staatsanwaltschaft vorgenommen. Zu diesen Vorgängen ist ein offener Brief an den Thüringer Ministerpräsidenten bisher nicht bekannt.
Wie konnte es dazu kommen? Es greift zu kurz, einzelne „Sündenböcke“ für diese Entwicklung verantwortlich zu machen. Es ist aber legitim, auch persönliche Verantwortung zu benennen und einzufordern. Bei allen Einflüssen, die der nach rechts verschobene gesellschaftliche Kontext mit sich bringt, sind es doch häufig Entscheidungen Einzelner, die großen Einfluss haben. Diese Entscheidungen fallen im Interagieren von Politik, Polizei, Justiz und Behörden. Sie werden beeinflusst durch die mediale und zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit. Die geringsten Veränderungen gab es dabei beim rechtlichen Rahmen. Deshalb halten wir die Verengung der Debatten der letzten Monate auf eine juristische Betrachtung, auf Fragen von Gesetzesänderungen und Verboten, für kontraproduktiv. Maßnahmen wie der Erlass einer Allgemeinverfügung, sind im besten Fall Ausdruck eines Bemühens um Absicherung gegen die von Rechts betriebene „juristische Aufarbeitung“ – viel schwerwiegender ist aus unserer Sicht die Verschiebung in der grundlegenden Haltung der Verantwortlichen, die in solchen Maßnahmen zum Ausdruck kommt. So ist die schädigende Wirkung von Lärm unbestritten. Es ist aber naiv zu glauben, es läge in der Macht des Veranstalters, den Schallpegel einer zu Recht erregten Menschenmenge unter einen Wert von 85dB(A) zu halten. Besonders unverständlich ist für uns die an diesem Beispiel sehr deutliche Ungleichbehandlung: So machten z.B. beim Warnstreik des Öffentlichen Dienstes im Februar 2017 die Gewerkschaft der Polizei mit ihren Vuvuzelas, die KollegInnen vom Forst mit Motorkettensägen und der „Rest“ mit Trillerpfeifen und Trommeln auf sich aufmerksam. Das Ordnungsamt vor Ort hatte kein Problem damit. Vielleicht richtig so – aber dann bitte auch, wenn es gegen menschenverachtende Rechte geht.
Bei politischen Veranstaltungen auf das Getöse von „Volksverräter“, „Lügenpresse“ „Merkel muss weg“ Rufen zu treffen, ist Teil der politischen Wirklichkeit geworden. So schwer der grassierende Hass selbst auszuhalten ist, macht uns doch oft der Umgang der Behörden damit noch mehr zu schaffen. "Eins, zwei, drei – danke Polizei", skandierten die TeilnehmerInnen einer Pegida-Demo am 3. Oktober 2016, als ein Polizeiführer ihnen die Auflagen über Lautsprecher "gerne" verlas – was eigentlich Aufgabe des Anmelders ist. Als er den DemonstrantInnen – von denen viele zuvor die Gäste des Festgottesdienstes in der Frauenkirche bepöbelt und bedrängt hatten – auch noch einen "erfolgreichen Tag" wünschte, war der Jubel groß.
Soweit kam es in Thüringen vielleicht noch nicht, doch können Nazis bislang unter weitgehender behördlicher Duldung sechsstellige Summen mit als „Kundgebung“ getarnten kommerziellen Musikfestivals erwirtschaften, und bei Veranstaltungen von Thügida bis AfD wird auch in Jena mit allen Mitteln und auf Kosten der Rechte der Bevölkerung ein störungsfreier Ablauf garantiert. Die eigentlich unvermeidliche Konfrontation der VerbreiterInnen von Hass und Hetze mit dem legitimen Widerstand gegen sie wird mit Hinweis auf die Versammlungsfreiheit unterbunden. Dabei wird von vornherein unterstellt, die Kritiker wollten die Versammlung sprengen. Dass es kein selektives Recht für Anhänger bei der Teilnahme an einer Veranstaltung, dafür aber ein Recht auf kritische Teilnahme und auf Protest in „Sicht- und Hörweite“ gibt, wird dabei unterschlagen.
Die Liste ließe sich fortsetzen – die Negativbilanz der letzten Jahre zeigt sich an den verschiedensten Beispielen.
Die Distanz zwischen Zivilgesellschaft und lokaler Politik ist gewachsen. Dialogangebote und allgemeine verbale Unterstützung auf der einen Seite werden durch diverse Stigmatisierungen auf der anderen Seite in Frage gestellt. Damit wird auch der bedauerliche Wandel von einem konstruktiv-kritischen Verhältnis der zivilgesellschaftlich Aktiven zu Politik und Behörden hin zu einem pauschalkritischen „Die da Oben“ befördert.
Das Vertrauen in Polizei und Ordnungskräfte ist auf breiter Front beschädigt. Damit ist wohl der nachhaltigste Schaden entstanden. Der verstörende Einsatz praktisch unbegrenzter Ressourcen, die lang andauernde Absperrung ganzer Wohngebiete, die unerbittliche Verfolgung von „Störern“ sowie undifferenzierte, oft eher der Ausforschung dienende und teils direkt von der AfD angestoßene Ermittlungen auch gegen Minderjährige und Anmelder von Demonstrationen und Kundgebungen haben das Bild der letzten Jahre geprägt. Leidtragende sind dabei auch die PolizeibeamtInnen, die im täglichen Kontakt mit den BürgerInnen stehen.
Es muss uns gleichgültig sein, ob die Ideologien der Ungleichwertigkeit im braunen oder blauen Gewand, mit oder ohne Professorentitel, mit oder ohne Wahlerfolg daher kommen. Wir haben ein Recht, ja eine Pflicht zu widersprechen. Wir erwarten von den Sicherheitsbehörden, der Justiz, der Politik und der Zivilgesellschaft eine aktive Verteidigung der Prinzipien einer offenen, vielfältigen, humanen, solidarischen und gleichberechtigten Gesellschaft. Sich einen „neutralen Platz“ zwischen den vermeintlichen „Rändern“ herbeizufantasieren heißt, sich vor dieser Aufgabe wegzuducken.
Die realen Risiken für Menschen, die sich für eine humane, demokratische und sozial gerechte Gesellschaft einsetzen, haben sich verändert und sind gewachsen. Sie sind nicht nur den Angriffen einer für ihre Gewaltbereitschaft bekannten rechten Szene ausgesetzt, sondern müssen auch diverse Repressionen schon wegen solcher Kleinigkeiten wie Wasserspritzen und Trillerpfeifen befürchten, und werden nicht nur aus der „rechten Ecke“ schnell als linksextreme gewaltbereite Spinner diffamiert.
Die meisten von ihnen hätten durchaus auch andere Ideen, ihre Freizeit auszufüllen. Wenn wir sie verlieren wollen, dann weiter so!