Ein Mahngang an Orte der Judenverfolgung in Jena

Flyer "Nachgegangen"

Am 10. November 1938 zog die SA grölend durch Jena und schlug die Schaufenster jüdischer Geschäfte ein. Jüdische Menschen wurden ins Gefängnis gebracht, 18 von ihnen in das KZ Buchenwald deportiert, unter ihnen Julius Wolf, Max Friedmann, Arthur Friedmann, Hermann Friedmann, Oskar Dallmann, Julian Cohn, Max Grossmann ...

Der Mahngang 70 Jahre danach erinnert an drei Stationen in Jena an „Täter - Opfer - Schergen".


1. Station - Kahlaische Straße 1:

Hier befand sich das von dem Rassenhygieniker Karl Astel eingerichtete Erbarchiv, in dem man die Individualdaten von 400.000 Personen sammelte, um die thüringische Bevölkerung erbbiologisch zu klassifizieren. Karl AstelAstel, enger Vertrauter des thüringischen Gauleiters Fritz Sauckel, wurde am 15. Juli 1933 zum Präsidenten des Thüringischen Landesamtes für Rassewesen in Weimar ernannt. Der Gründungsakt erfolgte also nur einen Tag nach der Verabschiedung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses". Astel verfügte über eine Doppelausbildung als Arzt und Sportlehrer. Zwei Jahre nach seiner Ernennung informierte er den Reichsführer SS Heinrich Himmler vertraulich über seine rassenpolitischen Fernziele: Alle seine Bestrebungen seien darauf gerichtet, „Thüringen als Fort in vorderster Linie des SS-Kampfes gegen alle überstaatlichen Mächte einschließlich des Christentums und für die Durchdringung des Volkes mit lebensgesetzlichem Denken auszubauen."

Zunächst richtete Astel ein modern ausgestattetes Erbarchiv ein, wobei er sich durchaus auf internationale Forschungstrends seiner Zeit berufen konnte. Zur Erfassung der Strafgefangenen Thüringens wurde hier eine so genannte kriminalbiologische Abteilung gebildet, deren Mitarbeiter die Individualdaten von 740 Personen sammelten und zusammenstellten. Zur Erhebung dieser Angaben über die Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen bestimmter Teile der Thüringer Bevölkerung entwickelte das Landesamt eine eigene Methode: die „Sippschaftstafel nach Karl Astel"1. Im Jahre 1935 erfasste die „erbbiologische" Datenbank des Landesamtes bereits Individualdaten von 400000 Personen. Die Biometrik wurde also in den Dienst der „Volksgesundheitspolitik" des Nationalsozialismus gestellt. Das NS-Regime begann, die funktionelle Rationalisierung der Mittel mit einem extremen Irrationalismus der Ziele zu kombinieren.


Sippschaftstafel nach Karl Astel[1] Die Tafel erfasste die Familie des Probanden bis zu den vier Großeltern und deren sämtliche Nachkommen, mit Ausnahme der Vettern und Basen. Diese Generationen wurden in der Tafel untereinander dargestellt und die Verwandtschaftsbeziehungen durch entsprechende Verbindungslinien gekennzeichnet. Für jede einzelne Person waren anzugeben: Vor- und Zuname; genaue Standes- bzw. Tätigkeitsbezeichnung; das erreichte Lebensalter; Todesursache; Körperbau; Gesundheitsverhältnisse.










Sterilisierungsopfer in Thüringen und Jena
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Das ärztliche Personal der Frauenklinik und der Chirurgischen Klinik der Universität Jena war in die rigorose Sterilisationspraxis des Landes Thüringen eingebunden. Nach Astels eigenen Angaben seien ihr zwischen dem 14. Juli 1933 und Ende 1943 landesweit etwa 14000 Personen zum Opfer gefallen. Die Gesamtzahl der zwischen 1934 und 1945 in den Universitätskliniken Jena unfruchtbar gemachten Frauen und Männer ist allerdings nicht mehr zu ermitteln. In der Universitätsfrauenklinik Jena wurden zwischen 1934 und 1945 mindestens 1194 Frauen auf operativem Wege zwangsweise sterilisiert. Seit 1936 bestand zudem auch die Möglichkeit, Frauen über 38 Jahre durch Radium- und Röntgenbestrahlung unfruchtbar zu machen. Außerdem wurden 1934 bei mindestens 32 Frauen bestehende Schwangerschaften beendet. Eine entsprechende „gesetzliche Regelung" erfolgte erst 1935.

1942 berichtete der Oberarzt der Chirurgischen Universitätsklinik Fred Nöller über 786 an dieser Klinik durchgeführte Sterilisationen seit Einführung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" im Jahre 1933. Von 1939-45 war Astel auch Rektor der Friedrich-Schiller-Universität. Er nahm sich am 3. April 1945 - wenige Stunden vor dem Einrücken der US-Armee - in seinem Jenaer Dienstzimmer das Leben.


Hier sind drei Epigramm-Gedichte von Hans Arnfrid Astel, dem 1933 geborenen Sohn von Karl Astel - Miniaturtexte, die an Schrecken erinnern und lange Schatten werfen.

(Texte aus: http://www.zikaden.de/navigation/gegenst%e4ndlich.html)





4. April 1945

- für Karl Astel


In deinem Herzen
hast du ihn erschossen,
den »Führer«, und mit ihm
den Sauckelfreund.
Die Sonne der Bewegung
riß dich mit.
Du hast dich selbst
ans Hakenkreuz geschlagen.
Wer sagt, dem wein ich
keine Träne nach?
Du keine? Ich ihm
alle meine Tränen.



MEIN junger Vater hat mich nicht wiedererkannt,
seinen alten Sohn.



MEIN Vater, mein Sohn,
ihr schleift mich durchs Leben.

2. Station - Kahlaische Straße 6 - „Villa Rosenthal":

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Die Villa Kahlaische Straße 6 war bis zu Beginn der Herrschaft der Nationalsozialisten ein viel besuchtes geselliges Zentrum Jenas. Hier lebten Clara (1863-1941) und Eduard Rosenthal (1853-1926). Der Professor der Rechtswissenschaft gehörte zu den prägenden Persönlichkeiten der Stadt. Hohe Wertschätzung hatte er erhalten als „Vater" der ersten Thüringer Verfassung, als Universitätsprofessor und Prorektor, als juristischer Berater Ernst Abbes, als Vorsitzender des Jenaer Kunstvereins. Als er starb, wurde an der Universität ein ‚Dies academicus' verkündet. Sein Sarg wurde von den Senatoren der Universität und unter großer Anteilnahme vom Universitätshauptgebäude zum Nordfriedhof geleitet.

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Eduard Rosenthal

Clara Rosenthal musste erleben, wie 1933 das Porträt ihres verstorbenen Mannes aus der Universität wieder entfernt wurde. Ihr Leben wurde nun durch den zunehmenden Antisemitismus und seit 1935 durch die „Nürnberger Gesetze" geprägt. Anfeindungen, Verbote, Drangsa-lierungen, Einsamkeit bestimmten ihr Leben mehr und mehr. Die künstlerisch interessierte Frau durfte keine Konzerte, kein Theater, kein Kino mehr besuchen; ihr Radio wurde eingezogen, der Telefonanschluss wurde abgestellt. Sie durfte nur noch zu festgelegten Zeiten und in fest gelegten Geschäften einkaufen.

Sie musste den Zwangsnamen Sara tragen, schließlich wurde ihr Vermö-gen der Oberfinanz-direktion unter-stellt. Als ihr schließlich das Wohnrecht in ihrem Haus streitig gemacht wurde - die Villa war durch eine großherzige testamentarische Verfügung als Stiftung in den Besitz der Stadt übergegangen - und die Einweisung in ein „Judenhaus" drohte, war der Lebenswille der 78jährigen Frau gebrochen. Am 11. November 1941 nahm sie sich in ihrem Haus mit Tabletten das Leben.

Die Wohnungsgesellschaft Jenawohnen ist heute Hauseigentümer. Ihr ist es ein Anliegen, dieses Haus auch als Erinnerungsort an seine früheren Besitzer zu erhalten. Zwei Tafeln am Haus, angebracht von Wissenschaflern der Juristischen Fakultät der Universität, erinnern an Clara und Eduard Rosenthal.


3. Station - Felsenkellerstraße - Nie gesühnte Verbrechen:
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Das Jenaer Polizeibataillon 311 und seine Beteiligung am Massenmord in Polen, der Ukraine, Russland und Weißrussland während des 2. Weltkrieges Es waren schöne Zeiten, als zumeist etwa 30-jährige Rekruten aus ganz Deutschland, Thüringen und Jena im Frühjahr 1940 im Polizei-Ausbildungs-Bataillon Jena ihre Laufbahn als Wachtmeister begannen. Aus ihren Briefen geht hervor, dass es gut zu essen gab, der Ton "rauh, aber herzlich" war, die Ausbildung moderat und die Uniform im schmucken Grau-Grün. "Vorläufig ist alles noch harmlos", schrieb einer von ihnen in einer Vorahnung auf Kommendes an seine Frau. polizeibataillon_kEr sollte recht behalten: Als das Bataillon Mitte Oktober 1940 geschlossen mit über 500 Mann nach Krakau in die Hauptstadt des Generalgouvernements sowie in umliegende Ortschaften des Distriktes verlegt wurde, war es vorbei mit der Gemütlichkeit. Von Anfang an standen Razzien gegen die polnische und jüdische Bevölkerung auf dem Programm, Verhaftungen und Deportationen, ab März 1941 die "Gewährleistung von Ordnung und Sicherheit" in den Ghettos, Exekutionen inklusive. Es war der Auftakt zum Massenmord an den osteuropäischen Juden, der mit dem Überfall auf Stalins Reich zum alltäglichen Geschäft der SS-Einsatzgruppen, der Polizeiverbände, einheimischen Hilfstruppen unter Anteilnahme der Wehrmacht wurde. Beteiligt war auch das Bataillon 311, ab 1942 II.Bataillon im Polizeiregiment 6 und dessen verbliebener Reste im III. Bataillon des Polizeiregimentes 26. Die Blutspur zieht sich mit ungezählten Opfern der Massenexekutionen und Deportationen von Lemberg/Lvov, Winniza, Uman, Kriwoi-Rog, Nikolajew, Cherson, Pawlograd, Dnepropetrowsk, Melitopol und anderen Orten der Ukraine und Südrusslands bis nach Ostpolen mit Zamosc und Bialystok, wo bei der Räumung des dortigen Ghettos über 30 000 Juden in die Vernichtungslager oder zur Zwangsarbeit mit anschließender Vernichtung deportiert wurden. Ab Herbst 1943 bis Sommer 1944 wurden in der Region um Minsk in Weißrussland ganze Regionen dem Erdboden gleich gemacht, Tausende Männer, Frauen und Kinder erschossen oder lebendigen Leibes in den Dorfkirchen verbrannt als "Vergeltung" für Partisanenaktionen. In Jena selbst bewachten Männer des Bataillons das Außenlager Jena des KZ Buchenwald und ein Bombenräumkommando aus KZ-Häftlingen, eskortierten den letzten Todesmarsch aus Buchenwald durch Jena. Nach dem Krieg kamen die meisten der überlebenden Täter ohne Strafe davon. Im Osten verurteilte die SMAD einige der Polizisten, langjährige Ermittlungen der Staatssicherheit wurden in den 80er Jahren ohne Gerichtsverfahren eingestellt. Ermittlungen im Westen endeten im Fall des Polizeibataillons 311 ebenso mit der Schließung der Aktendeckel: Eine individuelle Schuld habe man nicht feststellen können. Heute erinnert in der Wissenschaftsstadt Jena noch immer nichts an die Beteiligung der Jenaer Polizisten am Massenmord im 2. Weltkrieg und an das Leiden der KZ-Häftlinge, die im Jenaer Reichsbahn-Ausbesserungswerk Zwangsarbeit leisten mussten.


Texte: Dr. Rüdiger Stutz (Station 1) und Dr. Wolfgang Rug (Hans Arnfrid Astel); Dr. Gisela Horn (Station 2) und Frank Döbert (Station 3). - Bildnachweise: Station 1: Porträt Astel: ThHStAW ; Sippschaftstafel: Sammlung U. Hoßfeld, Jena; Sportszene: H.-G. Kremer, Jena. - Station 2: Porträt E. Rosenthal im Rektoramt der FSU: Foto W. Rug; Villa Rosenthal: in Gerhard Lingelbach: Eduard Rosenthal (1859-1926) - Rechtsgelehrter und „Vater" der Thüringer Verfassung von 1920/21, Erfurt 2006, S.26; Clara Rosenthal-Plakette: privat. - Station 3: Sammlung F. Döbert, Jena - Layout: Wolfgang Rug, Dornburg - ViSdP: Gisela Horn, AK Sprechende Vergangenheit im Jenaer Aktionsnetzwerk gegen Rechtsextremismus