Der kritische Zugang zu dem Motto des Mahngangs ist durchaus nachvollziehbar, die davon ausgehende Bewertung des Mahngangs ist jedoch so nicht akzeptabel, denn es werden sowohl der Anlass des Mahngangs, der Zeitpunkt des Mahngangs, vor allem aber das Interpretationsangebot, das der Mahngang selbst bietet, nicht oder zumindest nicht hinreichend veranschlagt.

Ausgangspunkt des Mahngangs war die Erinnerung an den Fackelmarsch der Nazis durch Jena am 30. Januar 1933. Der Fokus war also zunächst und von Anfang an auf die Täter gerichtet: der Eintritt der Nazis in die Stadtgeschichte (Propagandaspektakel Fackelzug), ihr verbrecherisches Wirken und die Unterstützung durch die Bevölkerung (Stationen), das Ende der Gewaltherrschaft (Bombardierung). Es ging also in erster Linie nicht darum, der Opfer zu gedenken, sondern uns war wichtig, auf die Täter zu verweisen. Diesem Anliegen entspricht der Zeitpunkt des Mahnmarschs: er fand zeitnah zum 30. Januar statt. Der nächste Mahngang des Arbeitskreises soll am 9. November stattfinden - dass dieser dann einen grundsätzlich anderen Zugang zur Stadtgeschichte eröffnen wird und andere Darstellungsmuster braucht, muss vielleicht nicht ausdrücklich betont werden.

Der Mahngang bot nicht nur Fakten zur Stadtgeschichte, sondern er war zugleich eine Inszenierung, damit ein Interpretationsangebot. Diese Inszenierung hatte 4 wesentliche Elemente: Der pantomimische Auftritt der Reizvolxgruppe, der künstlerisch mit Folgen der Machtergreifung Hitlers umging, vermittelte zugleich den Verweis: die Gestaltung birgt eine Aussage. Die zweite Inszenierung betraf die Route des Mahngangs. Der Weg des Fackelzugs und des Mahngangs 2008 führte durch die gleichen Straßen, aber er vollzog sich in umgekehrter Richtung, d.h. auch: wir wollen die Situation nicht imaginieren, sondern kritisch reflektieren. Im Wissen um die Folgen wird das verbrecherische Handeln der Täter und das (Nicht)handeln der Mitläufer erinnert und vorgestellt. Diesem Ansatz, den Aufbruch der Nazis und das Ende ihrer Gewaltherrschaft zusammen zu denken, war dann auch die dritte Inszenierung - das Motto - verpflichtet. Auf metaphorischer Ebene ist das Flammenbild sinnreich: die Fackeln der Nazis, die den unseligen Aufmarsch begleiteten, von denen ein Feuer ausging, das 12 Jahre lang wütete und Europa, Teile der Welt und schließlich auch unsere Stadt in Flammen setzte. Das Schlussposter „So was kommt von so was" formuliert das knapp und zutreffend. Die vierte Inszenierung schließlich betraf das Schlussbild selbst und war am schwierigsten zu finden. Um der Gefahr zu entgehen, am Ende die Jenaer Bevölkerung als „eigentliches Opfer" darzustellen, brauchte es einen Perspektivwechsel, der uns durch eine mediale Veränderung möglich wurde. Die Wiedergabe der Stimme von Ricarda Huch, einer Zeitzeugin, erwies sich als geeigneter Kunstgriff. Ohne jedes Opfergehabe oder Selbstbemitleidung berichtet sie in eindringlichen Sätzen von den Fliegerangriffen auf Jena am 19. März 1945. Der letzte Satz des Mahngangs „Die Stadt stand in Flammen" wurde von einer Antifaschistin gesprochen.

Natürlich war uns auch klar, dass die Wahl des Mottos ein Wagnis ist. Wir hatten Gründe dieses Wagnis einzugehen, und die Reaktion vieler Teilnehmer des Mahngangs hat uns darin bestärkt, dass es richtig war, feste Argumentationsfiguren wie „Das Selbstmitleid der Deutschen verdeckt das Leid der Opfer" zu unterlaufen.

Zunächst: Wenn wir als Schlussbild die Erinnerung an das zerstörte Jena wählen, dann trauen wir den Teilnehmern des Mahngangs etwas zu. Wir nehmen ihre Erinnerungen und Vorstellungen, auch ihre Leid- und Schmerzerfahrungen ernst und setzen darauf, dass diese hinterfragt und erschüttert werden können. Unsere Chance liegt genau darin: kein Verdikt wie „sie denken bei 1945 zuerst an die deutschen Opfer", kein Vorwurf, kein Appell, sondern Einladung zur Empathie, zur kritischen Reflektion, also zur Erkenntnis. Das hat nichts mit Kompromisslerei oder gar mit Opportunismus zu tun, sondern ist einer einfachen Erfahrung geschuldet: der Mensch muss dort abgeholt werden, wo er steht. Ein Mahngang kann ein erster Impuls dafür sein, und es liegt an uns weitere Gesprächsformen zu finden, die den Weg der Auseinandersetzung mit der Nazizeit und dem Rechtsextremismus von heute befördern und begleiten. Dass der Mahngang dies mit seinem Motto blockiert, kann ich nicht sehen.

Und schließlich: wir agieren nicht im leeren Raum. Die Zerstörung deutscher Städte und das damit verbundene Leid sind Themen, die lange Zeit von der linken Kritik nicht aufgegriffen wurden, mit Gründen, die gut nachvollziehbar sind. Themen aber, die wir tabuisieren, werden schamlos von den Neonazis missbraucht, um die Geschichte in ihrem Interesse umzulügen. Sie sind es, die heuchlerisch und zynisch die Erinnerungen instrumentalisieren. Das dürfen wir nicht zulassen. Ich bin da selbst ratlos: Zum einen möchte ich mich durch die Nazis bei der Wahl meiner Themen unter gar keinen Umständen beeinflussen lassen. Zum anderen aber habe ich das Bedürfnis, etwas gegen deren Geschichtslügen zu setzen. Mit unserem Mahngang hatten wir uns dafür entschieden: „Die Stadt in Flammen"- das ist ein historischer Fakt. Er ist eingeschrieben in die Erinnerung der damals Betroffenen, er ist Teil der Vorstellungen der nachfolgenden Generation. Dies zu ignorieren würde bedeuten, die Deutungshoheit den Neonazis zu überlassen, die sie seit Jahren schon in Dresden, aber auch in Jena schamlos in Anspruch nehmen.

Der Mahngang war unser erster Versuch, Deutungshoheit zurück zu gewinnen: der Einzug der Nazis in unsere Stadt, die Verbrechen der Nazis, die Zerstörung der Stadt als Folge und Schlusspunkt. So was kommt von so was. Ich kann daran nichts Falsches finden.

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